Stadtporträt Zürich

Tell und Tales, Zunft und Zwingli - und diese merkwürdig leichte Art der Zwanghaftigkeit: eine kurze Mentalitätsgeschichte von Zürich.

text: PATRICK KRAUSE

Zürich

Wäre Zürich ein Geräusch, dann das von knirschendem Kies und knarzenden Zimmertüren aus schwerem Holz.

Oder aber von Stahlplatten und Verkehrsrauschen, je nachdem ob man sich gerade im etablierten Norden der Stadt aufhält oder im halbwegs subversiven Süden.

Zürich ist etabliert. So etabliert, wie eine Stadt nur sein kann, die über Jahrhunderte ihren Wohlstand und ihre Institutionen ohne die Beeinträchtigung von Kriegen, Zerstörungen und Besetzungen entwickeln konnte. So steigen Zins und Zinseszins so stabil über die Grenzen der Unwägbarkeit hinaus wie die Abneigung gegenüber allem Experimentellen, Modernen – was wiederum zu einer blühenden Gegenkultur führt, die sich gegen das erdrückende Establishment auflehnt. Aber selbst das bleibt ein Experiment gegenüber der Sicherheit, in der sich der Zürcher wiegen kann, politisch, wirtschaftlich, und was das Selbstverständnis betrifft.

Dazu passt eine Anekdote, die ein Bekannter erzählt, der in der Schweiz beruflich im Management tätig ist. Nachdem dort ein (schweizerisch) ‚Entscheid’ über eine neue Arbeitsmethode gefällt wurde, meldet sich am Ende der Schweizer in der Runde zu Wort und meint: „Ja, das ist alles gut, ich frage mich nur, warum haben wir es denn nicht vorher schon so gemacht? Weil, wenn es gut ist, dann hätte man es doch vorher schon so machen können? Warum haben wir es nicht schon immer so gemacht?“ (Anm. ‚Isch guat’, die korrekte Übersetzung für ‚es ist gut’ kommt für Zürcher Verhältnisse einem hemmungslosen Gefühlsausbruch nahe).

Mit anderen Worten: In Zürich ist eigentlich alles so bewährt, konserviert und gediegen, dass es eine Wonne ist; es sei denn, bei so viel Konservativismus und Gelassenheit wird es einigen zu viel, die mit Unordnung, Chaos oder Kreativität einen Gegenpol zimmern – wie es sich für soziologische Entwicklungen gehört. Auch das gibt es in Zürich, viele Spuren davon finden sich in diesem Druckerzeugnis. Und die große Frage lautet; Woher kommt das, dieses Selbstverständnis des Zürchers an sich, mit Allem, was dazugehört?

Die Antwort findet man wie so oft in den Geschichtsbüchern und Narrationen, in den historischen Daten und den großen Mythen: Für Zürich stehen da besonders Namen wie Zwingli für die Religion, oder Wilhelm Tell für den großen Mythos der Unabhängigkeit, damit einhergehend das Wesen der Eidgenossenschaft, und alles zusammen ergibt den ‚Zürcher an sich‘. Aber legen wir ihn kurz auf die Couch, um seine/ihre Mentalität besser zu verstehen.

So lobt schon Julius Cäsar die Schweizer im ‚Gallischen Krieg’: „Die Helvetier übertreffen die übrigen Gallier an Tapferkeit, weil sie in fast täglichen Gefechten mit den Germanen kämpfen.“ Wobei zu beachten ist: Auch Helvetia ist bekanntlich „divisa in partes tres“, in den italienischen, den französischen und den deutschen Teil, aus denen Zürich besteht. Je mehr der Schweizer an sich jedoch nach außen austeilt, umso enger wird der innere Zusammenhalt untereinander, wie Sigmund Freud in seinem berühmten Werk zum ‚Unbehagen in der Kultur’ 1930 konstatiert: „Es ist der kleine Unterschied der Deutschschweizer zu den Deutschen, der Romands zu den Franzosen, der Tessiner zu den Italienern, der uns allen bewusst macht, wir sind nicht wie diese. (...) Die drei Landesteile haben eigentlich gar nichts miteinander zu tun, deshalb wollen wir uns lieber nicht deren Staaten anschließen, deshalb werfen wir uns einander lieber selbst an den Hals. Die drei Landesteile haben eigentlich keine Wahl, als zusammenzustehen.“

Enger Zusammenhalt entsteht demnach, wenn man sich mit den Nachbarn prügelt – und umgekehrt, wenn die Nachbarn trotz einiger Nähe und Verwandtschaft nicht mit ihren Sprachvettern befreundet sein wollen. Was in der Nussschale schon das Phänomen der Eidgenossenschaften wie auch der Neutralität des kleinen, reichen Landes mitten in Europa erklärt. Umgekehrt wird die Situation für den Schweizer ambivalent, oder auch brenzlig, denn „wird ein Deutschschweizer (...) hingegen im anderen Kulturraum wahrgenommen, setzt er sich ganz gerne ab und sagt, ich bin Schweizerin, Schweizer“, führt Freud aus – was wiederum für eine gewisse innere Zerrissenheit, zum Beispiel des Zürchers gegenüber dem Berner, Genfer oder Tessiner offenbaren würde.

Aber beginnen wir ganz nach Zürcher Art, also lang- und achtsam, und ganz von vorne. Das aus dem römischen Stützpunkt Turicum entstandene Zürich stieg erst im Frühmittelalter in den Rang einer Stadt auf. In Turīcum gab es zwar bereits zur Römerzeit eine Zollstation und ein Kastell, die zugehörige Siedlung kann noch nicht als Stadt bezeichnet werden. Das frühmittelalterliche, alemannische Zürich war eng verbunden mit dem Herzogtum Schwaben und zwei bedeutenden geistlichen Stiftungen der deutschen Könige, dem Grossmünster und dem Fraumünster, die dem Kult um die Stadtpatrone Felix und Regula geweiht waren. Nach dem Zerfall der zentralen Gewalt im Herzogtum Schwaben und dem Aussterben der Zähringer 1218 konnte sich Zürich 1262 den Status der Reichsunmittelbarkeit sichern. Der Titel einer Reichsstadt bedeutete de facto die Unabhängigkeit der Stadt. De jure löste sich Zürich jedoch erst 1648 von der Oberhoheit des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches.

Zürich mit Zunft und Zwingli

Entscheidend für das Selbstverständnis Zürichs war jedoch die Zeit nach 1300. Seit der ‚Brunschen Zunftverfassung’ durch den Bürgermeister Brun im Jahr 1336 werden die Geschicke Zürichs vom Stadtadel und den Handwerkervereinigungen (Zünfte) gemeinsam geleitet. 1351 schließt sich Zürich zur Sicherung seiner Unabhängigkeit gegen das aufstrebende süddeutsche Adelsgeschlecht der Habsburger der schweizerischen Eidgenossenschaft an und wird zusammen mit Bern zum Vorort dieses Staatenbundes. Wie so oft in der Historie eines Landes, ist es ein dazu passender unhistorischer Mythos, der das Ganze der nationalen Identität zusammenhält: Die Figur des Wilhelm Tell. Wilhelm Tell, nicht der Revolutionär Brun, setzt sich im Hoheitsbereich der ewigen Nationalhelden durch, obwohl Tell eigentlich das Gleiche auszeichnet: das mutige und tatkräftige Entgegentreten gegen die vorherschenden Habsburger und deren laut Mythos unerträglichen Schikanen.

Bezeichnend für die Mythenbildung ist es, dass der Schweizer Freiheitskämpfer erst 200 Jahre nach seinem Wirken zur zentralen Identifikationsfigur der Eidgenossenschaften wurde – in der Schweiz mahlen die Mühlen eben langsamer – und schließlich durch das Drama von Friedrich Schiller um 1900 endgültig zum Nationalhelden. Tells Name ist seit den ersten, um 1500 verfassten Liedern und Chroniken unmittelbar mit der Entstehung der Eidgenossenschaften verknüpft. 1804 verfasste Schiller das gleichnamige Drama, 1818 nahmen die Gebrüder Grimm das Epos in die Sagensammlung auf.

Die Rahmengeschichte ist kurz erzählt, sofern sie nicht noch aus dem Deutschunterricht geläufig ist: Der habsburgische Landvogt Gessler lässt einen Hut auf eine Stange stecken und befiehlt den Einheimischen, ihn beim Passieren mal zu grüßen. Der bekannte Armbrustschütze Wilhelm Tell verweigert den Gruß, woraufhin der Vogt ihn unter Androhung des Todes zwingt, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes Walter zu schießen. Tell wird also gezwungen, unter Umständen seinen eigenen Sohn zu erschießen, trifft aber den Apfel und ist prinzipiell gerettet, gibt aber zu, dass er im anderen Fall den Vogt erschossen hätte. Daher will ihn der Vogt auf seine Burg nach Küssnacht einbuchten, ein Sturm bringt jedoch das Schiffin Gefahr und Tell wird befreit, eilt über die Berge nach Küssnacht nahe Zürich voraus, erwartet den Vogt in der berühmten ‚hohlen Gasse‘, erschießt ihn aus sicherem Versteck mit der Armbrust und entledigt das Schweizer Volk damit der habsburgischen Tyrannei. Womit allerdings der nächste Tyrann, dieses Mal religiöser Art, an das Tor Zürichs klopft: Der Reformator Huldrych Zwingli, die brutalere Version von Martin Luther.

Mal Limmat-Rom, mal Limmat-Athen

Zwinglis Reformation und die damit verbundene Protestantische Ethik soll die Stadt über Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart hinein prägen. Unter seiner geistigen Führung wurde Zürich seit 1519 als Schweizer Pendant zu Luther in Wittenberg zum reformierten Rom an der Limmat. Unter ihm wurde die Zürcher Bibel, eine der ersten deutschen Bibelübersetzungen betrieben. 

Zwingli war jedoch kein netter Mensch, Luther wurde sogar sein Widersacher, der ihn ‚Zwingel‘ nannte: Der Leutpriester am Großmünster in Zürich setzte mit seinem Amtsantritt am 1. Januar 1519 die Reformation mit Gewalt durch. Schon ein Jahr später waren alle Prediger im Umkreis gezwungen, die Evangelien im Sinne des höchst einflussreichen Pfarrers zu deuten. Zwingli überstand drei Konzile zu seinen Gunsten und eine direkte Auseinandersetzung mit Martin Luther, bei der er in vielen Punkten übereins war, aber zum Beispiel die leibliche Präsenz Christi verwarf. Entsprechend wurden Altar- und Kirchenbilder geschliffen, weiterhin Messen und Zölibat abgeschafft, aber auch eine geregelte Armenfürsorge wurde eingeführt. Schließlich ist die ‚Zürcher Bibel‘ sein Meisterwerk, das sich als erste vollständige Schrift weit verbreitete. Zwinglis Gegner, namentlich die ‚Täuferbewegung‘wurde jedoch scharf verfolgt, einer ihrer Anführer Felix Manz in der Limmat ertränkt, die anderen flüchteten. Wen er zu fassen bekam, ließ er foltern und umbringen. Erst 2004, so viel zu den langsamen Mühlen, fand in Zürich eine versöhnende Versammlung zwischen Reformierten und Täufern statt.

Banken, Bürger und Krawalle

Als die Zürcher Industrie in der Nachkriegszeit weniger bedeutend wurde, nahm die Bedeutung des Bankenwesens umso mehr zu. Aber auch die Gegenbewegung zu stetem Wachstum durch Fleiß und vorgestanzte Karrieren ließ im 20. Jahrhundert nicht auf sich warten. Zürich stand politisch im Bann der Arbeiterbewegung, da Zürichs Industriebetriebe Tausende von Arbeitern beschäftigte und zugleich eine Hochburg des Großbürgertums war. 1928 stellte die Sozialdemokratische Partei erstmals eine absolute Mehrheit in Stadt- und Gemeinderat: Das ‚Rote Zürich‘ wurde zu einem Aushängeschild für die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokratie. Trotzdem wurde in Zürich 1939 die als ‚Landi‘ bekannt gewordene Landesausstellung zu einem Symbol für den Zusammenhalt und den Widerstandswillen der Schweiz im Zeichen der geistigen Landesverteidigung gegen Hitlerdeutschland. Und auch hier sieht man erneut: Seit dem Gallischen Krieg stehen Zürcher zusammen, wenn man ihnen von außen komisch kommen will.

Ein weiterer Ausfluss der Subkulturen trägt jedoch heute stark zum touristischen und wirtschaftlichen Zuspruch bei: Kunst, Kultur und Gastronomie in vielfältiger Ausprägung. Wenn also Zürich zur Sprache kommt, kann man sich die Konstanten der letzten sechs bis acht Jahrhunderte gleich mitdenken, ohne große Abstriche machen zu müssen: Die Zürcher Seele hängt irgendwo zwischen Tellischer Stärke und Zwinglianischer Selbstdisziplin. Und zwischen ihrem Wesen als Deutschschweizer gegenüber den franko- und italophilen Landsleuten – mit denen man wiederum ‚miteinand’ vereint gegen Bedrohungen von außerhalb zusammensteht.

Alles in allem symbolisiert Zürich diese typische Gediegenheit, in Gestalt von Neutralität, Liberalität, Fleiß, Ordnung, Disziplin, Heimatverbundenheit, dem gepflegten Sich-Raushalten – und dann noch immer genau das Gegenteil davon. Eben eine kleine Stadt an der Limmat, mental angesiedelt irgendwo zwischen Baur au Lac und Needlepark, Verfolgung Andersgläubiger und Dada, Subvention und Subversion, FIFA und Nummernkonto, Karriere und Kontroverse, alles in recht trockener Form verabreicht. Und warum sollte man irgendetwas daran ändern? Wenn ‚sch’guat isch’, dann hätte man es ja schon früher so machen können.

 

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