Architektur in Paris
Bernard Desmoulin erklärt, wie Pariser Architektur funktioniert.
Wenn Weltpolitiker in Paris gastieren – wie etwa zur Klimakonferenz – werden sie immer wieder feststellen, wie modern die Stadt im Inneren ist, obwohl sie nach außen fast überall eine historische Fassade zeigt. Die neue ‚Kantine‘ des Außenministeriums ist ein gutes Beispiel dafür, aber auch diejenige der Abtei von Cluny oder das Schloss von Versailles. Das Schloss von Versailles? Dafür ist die Fassade natürlich zu bedeutsam, und Architekt Bernard Desmoulin zu bescheiden – und zu sehr ein Pariser Architekt, um die Goldenen Regel der Pariser Architektur zu verletzen. Er »träumt« lieber Architektur. Womit wir mittendrin sind in der Seele der Stadt.
Bernard Desmoulin
Bernard Desmoulin wollte gegen den Willen seines Vaters Designer werden. Da man in diesem Fach kein Diplom erwerben konnte, wandte er sich der Architektur zu und studierte „unter der Glaskuppel des Grand Palais“. Nach seinen Anfängen in Paris und New York – wo er unter anderem an I.M. Peis Louvre-Pyramide mitwirkte - war Desmoulin für zwei Jahre Stipendiat in Roms Villa Medici. 1990 eröffnete er sein eigenes Büro in Paris. Bedeutende Projekte sind das Mausoleum in Fréjus (1993), das französische Kulturzentrum in Mexiko (1998), die Neustrukturierung des Musée des Arts Décoratifs im Pariser Louvre ( 2006) und das Interior Design der Grand Commun im Schloss von Versailles (2012-2015).
Interview
QVEST: Herr Desmoulin, welche Dinge sind beim Planen und Entwerfen von Gebäuden in Paris zu beachten?
Desmoulin: „Die Moderne entscheidet, wie man Räume erweitern kann. Die entscheidenden Kriterien sind für mich die Umgebung, das Gebäude als Produkt, sowie Geschichte und Modernität. Auch Material und Struktur sind mir nicht gleichgültig.“
Ist Paris mit seiner weitgehend historischen Fassade da nicht besonders schwierig?
„Wer als Tourist nach Paris kommt, hat das Gefühl, das sich hier seit 150 Jahren nicht viel verändert hat, aber das täuscht. Man muss die buchstäblichen Schichten untersuchen, um die Geschichte der Stadt zu entdecken. Paris funktioniert in der Hinsicht ähnlich wie Rom - auch eine europäische Stadt, von der man sagt, sie sei nicht fähig, sich zu modernisieren. Aber Schicht auf Schicht kann man dort die unterschiedlichen ‚Modernen’ erkennen, und in Paris ist es ähnlich. Städte, besonders europäische Städte, können sich erneuern, tragen aber ihre Identität weiter. Bei solchen transmodernen Prozessen kommt oft außergewöhnliche Architektur heraus.“
Was denken Sie über vollkommen moderne Projekte wie das Centre Pompidou oder das geplante Paris Triangle, die sich um Schichten und Geschichten offenbar nicht weiter scheren?
Das Paris Triangle des Baseler Architekturbüros Herzog & de Meuron ist ein sehr außergewöhnliches Gebäude, ähnlich in eine unspektakuläre Umgebung gesetzt wie der Eiffelturm und im Stande, einem Viertel neues Leben einzuhauchen. Das Centre Pompidou hat auf ähnliche Weise alte Viertel vollkommen neu definiert und zurück ins Leben geholt. Es ist für eine Stadt notwendig, kreative Zerstörung zu betreiben und eine kontrastive Situation zu schaffen, und das kann sehr gut funktionieren. Ich habe historische Städte wie Siena besucht, wo es keinerlei Moderne gibt, sie sind in sich geschlossen. Dort gibt es keinerlei Zeichen von Modernität, und das ist es auch, was fehlt.“
Was ziehen Sie vor, moderne oder alte Bestände?
Das hängt ganz davon ab. Ich habe auch in Versailles gearbeitet und anderen Orten, wo man neue Architektur ‚hinzuträumen‘ muss; angesichts von alten Bauten muss man diskret vorgehen und diese nicht verbergen. Bei anderen Gebäuden muss man ein Zeichen setzen, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Es gibt nur wirklich eine Sache, die ich hasse: Das ist die Provokation – wenn die Kontraste spürbar auseinander fallen, wenn die Gebäude Fragen aufwerfen. Das mag ich nicht. Beim Museum für Zeitgenössische Kunst in Montreil habe ich mich zum Beispiel bemüht, ein neues Gebäude in ein Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert zu integrieren. Es entstand ein rostfarbener Anbau mit Studios, der im Kontrast zu dem betont schönen, offenen Gebäude ein hässliches ‚Burka-Haus’ mit Seh- und Lichtschlitzen darstellt. Und zusammen bilden die beiden eine neue Einheit.
»Wenn du bescheiden bist, werde nicht Architekt.«
Bernard Desmoulins Lieblingsstücke
Der Architekt bevorzugt auch bei der Innenausstattung das Reduzierte und das Seltene. Sein liebstes Leuchtenmodell, »Lampe 612/613« von Paolo Rizzato für Arteluce, ist heute nur noch als Vintage-Modell erhältlich. Mit ihrer perfekt ausbalancierten Silhouette erinnert Artemide's »Tizio« an Rizzatos Entwurf.
Auch der Tecta B40 Stuhl teilt formale Grundzüge mit einem von Desmoulins' Lieblingen, dem »Spaghetti Stuhl« von Belotti.
Sind Sie also so etwas wie ein Brückenbauer zwischen Geschichte und Moderne?
„In Frankreich ist es ziemlich geläufig, in einem historischen Kontext zu bauen. Es ist bezeichnend, dass der von Frank Lloyd-Wright beeinflusste italienische Architekt Carlo Scarpa, der wichtigste Vertreter der organischen Architektur, ein enger Freund des französischen Kulturbotschafters wurde; das hatte eine sehr reinigende Wirkung auf Versuche, die Stadt zu modernisieren. Ihnen war eines klar: Ohne Transformation können wir nicht restaurieren.“
Was fügen Sie alten Beständen an Neuem hinzu?
„Die Signale der Moderne sind natürlich immer sehr dominant. Ich arbeite an Beständigkeit, am Diskurs zwischen Schönheit und Hässlichkeit. Ich orientiere mich an der Zeitgenössischen Kunst und klassischen ästhetischen Kriterien. Man braucht ein Gefühl für Schönes und Hässliches, dieses Spannungsfeld bleibt immer rätselhaft. Meistens gehen aber die Leute auf die Architekten los, weil sie ihre neuen Gebäude als skandalös empfinden.“
Ihre Architektur erinnert sehr an das Konzept des ‚Genius Loci‘ von Oswald Mathias Ungers: Es gibt das perfekte Gebäude für genau diesen Ort. Können Sie von Ihren Gebäuden sagen, sie sind für diesen Ort die perfekte Lösung?
„Wir arbeiten gerade an einer Erweiterung des Museums Cluny am Boulevard St Michel, das genau diese Frage beantwortet. Ein Gebäude direkt vor dem Museum – Ihr werdet sehen ...“
» Ich habe im Kontrast zu den klassischen, alten Gebäuden wenn man so will, hässliche Anbauten gesetzt.«
Wenn man Paris von oben betrachtet, scheint es sehr schwer zu sein, ein neues Gebäude zu entwerfen.
„In der Tat, die Stadt ist sehr dicht bebaut, alle Fassaden sind geschützt; wir erhalten vielfach die Fassade und zerstören die Struktur. Wir wollen uns nicht verbergen, aber auch nicht die Erscheinung beeinträchtigen. Oft wird der Hintergrund eines Gebäudes einer neuen Funktion zugeführt, und entsprechend brechen die Architekten das Innere auf, um es neu zusammen zu setzen. Es gibt viele Gebäude dieser Art, aber wir verändern ihren Ausdruck nicht. Die Fassade von Jean Nouvels Fondation Cartier zum Beispiel ähnelt den Pariser Haussmann-Gebäuden, die Bäume innerhalb des Gebäudes blieben erhalten. Der ursprüngliche Grundriss ist nach wie vor sichtbar. Auf diese Art kultivieren wir die Transparenz des Gebäudes und ihren Bezug zur Stadt.“
Ist in neuerer Architektur wie der Philharmonie oder der Fondation Louis Vuitton mehr Provokation enthalten?
„Allerdings. Die Fondation Louis Vuitton hat einen akademischen Stil, wie man ihn überall auf der Welt sieht, das ist Globalisierung! Man hat nicht das Gefühl, in Paris zu sein; es ist kein Pariser Meisterwerk, es ist ein Meisterwerk für sich selbst. Darin besteht für mich aber kein Sinn, wie Gehry überall auf der Welt gleich zu entwerfen.“
Können Sie den Paris-Stil mit etwa fünf Worten definieren?
„Discrète, effacement, affirmé mais disparaître: Übersetzt: Etwa bescheiden, aber nicht prätentiös ... Ich hatte einen Lehrer, der immer sagte: ‚Wenn du bescheiden bist, mach’ keine Architektur.’ Wenn du in Paris arbeitest, ist Paris wie ein Tuch, an das du die Knöpfe annähen darfst. Ich bin wohl von Natur aus bescheiden. Schon als Kind liebte ich die Leere. Mein Zimmer war immer aufgeräumt und sauber. Für mich gibt es immer zu viele Dinge in einem Raum.“
Pariser Urgestein
Bernard Desmoulin vor dem Portrait eines Vorfahren. Die Pariser Desmoulin-Dynastie geht auf den Anwalt und Freiheitskämpfer Camille Desmoulin zurück, der mit dem Schlachtruf „Aux Armes!“ („An die Waffen!“) den Sturm auf die Bastille einleitete. Der Freimaurer wandte sich im Zuge des darauf folgenden „Terreur“ gegen dessen Anführer, seinen Jugendfreund Robespierre, was ihn zusammen mit Danton am 5. April 1794 aufs Schafott brachte. Sein berühmter Ausruf „Die Ungeheuer, die mein Blut fordern, werden mich nicht lange überleben!“ sollte sich bewahrheiten: Robespierre wurde am 28. Juli desselben Jahres hingerichtet.
www.desmoulin-architectures.com