Alle sind gleich,
weil jeder anders ist
text: PATRICK KRAUSE photo: JO FOBER
Köln verstehen
Leben und leben lassen, in kaum einer Metropole herrscht dieses Gebot so wie in Köln – in all’ seinen Facetten und Ausfransungen …
Schon am Flughafen geht es los. Gnadenlos wird der Ankommende auf dem Weg zum Gepäckband über das so genannte „Rheinische Grundgesetz“ belehrt, auch „Kölner Jrundjesetz“ oder einfach „Kölner Zehn Gebote“ (eigentlich 11) genannt, inklusive ihrer Erklärungen. Also halten wir uns nicht lange auf:
1. »ET ES, WIE ET ES «: Siehe den Tatsachen ins Auge.
2. »ET KÜTT, WIE ET KÜTT «: Habe keine Angst vor der Zukunft.
3. »ET HÄTT NOCH IMMER JOT JEJANGE«: Lerne aus der Vergangenheit.
4. »WAT FOTT ES, ES FOTT «: Jammere den Dingen nicht nach.
5. »ET BLIEV NICHTS, WIE ET WOR«: Sei offen für Neuerungen.
6. »KENNE MER NIT, BRUCHE MER NIT, FOTT DOMIT«: Sei kritisch, wenn Neuerungen überhand nehmen.
7. »WAT WELLSTE MAACHE«: Füge Dich in Dein Schicksal.
8. »MAACH ET JOTT, ÄVVER NIT ZE OF«: Achte auf Deine Gesundheit.
9. »WAT SOLL DÄ QUATSCH«: Stelle immer erst die Universalfrage.
10. »DRINKSTE EINE MET«: Komme dem Gebot der Gastfreundschaft nach!
Wer nach diesen Grundregeln lebt und handelt, wird fast zwangsweise mit jenem rheinischen Gemüt ausgestattet, zu dessen Erkunden und Erleben jährlich Millionen Menschen aus aller Welt nach Köln kommen, und das nicht nur zur Karnevalszeit. Diese jedoch kann man wiederum als Hochamt des sogenannten „Rheinischen Frohsinns“ verstehen, in der Laissez-Faire, Liberalität und eine große Portion Neugier recht pragmatisch umgesetzt werden, mal mit einer mehr, mal weniger charmanten Note. Ob am Tresen oder auf dem Amt: Man kann über alles reden, und fast immer findet sich für alles eine Lösung. Und wenn man nach dem Weg fragt, bekommt man oft auch mehrere Vorschläge. In der Tat unterscheidet Köln sich von Metropolen wie Hamburg, München und vor allem Düsseldorf (so etwas wie der benachbarte Klassenfeind) von seinem Status als vielleicht einziger Ort auf der Welt, an dem von der Ankunft bis zum intensiven Kennenlernen der Einheimischen oft nur Stunden (oder ein paar Biere) liegen, wofür man anderswo Jahre braucht.
Fast ähnlich den USA sind im Laufe der Geschichte hier alle irgendwann einmal „mit einem Boot“ angekommen und unterbewusst schwingt die Tatsache immer mit, dass man nicht nur Gast auf dieser Erde ist, sondern auch irgendwann von irgendwo kam: ob man nun Römer war (in der Tat konnte man römische Nachfahren in Köln bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Kölner Stadtbild leicht ausmachen), ein nach französischer Besetzung dagebliebener „Schäng“ (der ‚Jean’) oder ein Podolski aus Polen. Köln ist und war immer schon Multikulti-Metropole, dessen Bewohner sich über Jahrtausende hinweg im gutbürgerlichen Milieu etabliert haben und machtorientierte Versuche von Römern, Patriziern, Franzosen, Kaufleuten und vor allem der omnipräsenten katholischen Kirche mit einer Gelassenheit ausgesessen haben, die sie seit jeher mit der Muttermilch aufsaugen. Die “Zehn Gebote„ spezifischen Kölner Zuschnitts sind nur das Resumé dieser einzigartigen Mentalität, die sich im gleichen Maße allem Neuen und Fremden gerne offen zeigt wie auch versperrt – außer den Menschen. Heute wird ihre Liberalität, man denke nur an ihren Status als „Homo-Hauptstadt Europas“, besonders als Touristenattraktion genutzt. Es gab sogar einmal ein Plakat des Verkehrsamtes, auf dem berühmte Immis (Immigranten) von der römischen Stadtgründerin Agrippina bis zu Tina Turner abgebildet waren.
Nach zehn Jahren in der Stadt ist man Kölner, ob man will oder nicht.Wer jedoch nicht in der Innenstadt geboren wurde, ist kein »Kölsche Jung«.
Die Ambivalenz zwischen Liberalität und Einengung wird in zahlreichen Facetten des Kölner Lebens deutlich: Köln gilt für vielen als der Nabel der Welt und das gelingt vor allem dadurch, dass man möglichst nicht über den Tellerrand schaut. Umgekehrt verschließt man sich keineswegs, wenn andere, fremde oder wie auch immer geartete Menschen über besagten Tellerrand hinein in die Schüssel der „Kölner Bucht“ krabbeln, in der eine Atmosphäre herrscht, die Kölner zusammenschweißt. Ein Schlüsselerlebnis des Autoren macht den Unterschied zwischen umarmender Offenheit und selbst auferlegter Eingrenzung deutlich: der Erklärung eines Kölners, wie man „Kölner“ wird. „Ejal, wo du herkommst, ob du schwarz, weiß, gelb, rot oder blau bist – wenn du zehn Jahre hier gelebt hast, bis du Kölner, ein- für allemal, da kannste machen, was du willst.“ Im krassen Gegensatz dazu steht der sogenannte „kölsche Jung“ (respektive das „lecker kölsche Mädche“, das übrigens „alles darf“): Diese oder dieser sind nur welche, die innerhalb der Stadtgrenze zur Welt kamen, die in etwa die Ringstraße „Innere Kanalstraße“ definiert und früher auf die Postleitzahl „Köln 1“ hörte. Dass dieser Status hochbegehrt ist, zeigen zahlreiche Geburtsanekdoten gebärender Frauen, die über Verkehrs-Kapriolen oder geplante Umzüge berichten, um dem neuen Erdenbürger jenen Status zuzuerkennen. Die im Stadtzirkel liegenden Krankenhäuser wie „Weyertal“ und „Klösterchen“ sind daher feste Begriffe: If you can make it there, you can make it offenbar anywhere, vor allem aber in Köln selbst. Die Umarmung des Kölners kann mitunter erdrückend sein. Wer Karriere machen will, tritt – kein Witz – in einen Karnevalsverein ein.
Nein, man bleibt schön hier - schon allein, weil man in Köln ist. Das ist kein Scherz. Kölns Selbstreferenzialität schlägt in jüngster Gegenwart die wildesten Kapriolen: Man feiert nicht nur, man feiert sich selbst. Der Feiergrund ist oft allein die Tatsache, dass Köln Köln ist. Im Kölner Kessel schmort man allzu gerne im eigenen Saft und jedes Gespräch an der Theke oder mit dem Nachbarn gibt einem recht, dass dies der schönste Ort der Welt ist (weshalb man auch nicht woanders leben muss). Natürlich ist es woanders auch mal schön, etwa im Urlaub, „es fehlt nur vom Balkon die Aussicht op d’r Dom“ (De Bläck Fööss). Die Kölner Grenzen sind daher recht klar definiert: Düsseldorf geht gar nicht, die ehemalige Bundeshaupt- oder auch die Welthauptstadt Aachen kommen im Köln-Mindset so gut wie nie vor, Fußballrivalen wie Leverkusen oder Mönchengladbach sind erklärte Feinde und schon am anderen Rheinufer in Köln-Deutz beginnt nach einem Bonmot vom Kölner OB Konrad Adenauer „Sibirien“. Tatsächlich entsprach bis vor wenigen Jahren die Begehrlichkeit an Wohnungen im vis-à-vis liegenden Köln-Deutz im Mietspiegel etwa jener der entlegensten, unpopulärsten Stadtteile.
Die Kölner Umarmung ist heftig, manchmal erdrückend. Und die Nabelschnur wird nie gekappt.
Und weiß man doch vom Hörensagen um die unwirtliche, teilweise schroffe oder ablehnende Haltung anderswo lebender Menschen. Das fängt schon im nahen Düsseldorf an, der „Verbotenen Stadt“, die mit ihrer Prosperität und ihrer kaufmännischen Tradition nicht direkt Neid hervorruft, sondern blanken Hass oder auch Genugtuung, wenn man sie wie in der sagenumwobenen Schlacht von Worringen im 13. Jahrhundert oder heute im Fußball entscheidend schlägt. Letzteres kommt zur größten Wonne selten vor, da man sich fast nie in der gleichen Liga begegnet, Köln (bis heute Deutscher Meister 1978!) allerdings immer weiter oben. Nein, die Anderen, die können schön kommen, dann muss man auch nicht zu denen hin. In der Tat kann man Köln auch als soziales Sammelbecken für alle sehen, deren Schwächen, Eigenheiten, Spleens anderswo nicht unbedingt toleriert werden. In Köln wird nicht lange „toleriert“, in Köln nimmt man jeden, wie er/sie/es ist.
Umgekehrt wird die mentale Nabelschnur in Köln Geborener offenbar nie gekappt, da können sie nach Fernasien oder an den Nordpol fortziehen – was zum Beispiel die hohe Expat-Anwesenheitsrate zu Karneval oder Weihnachten in der Stadt beweist. Freilich gibt es wiederum wenig Startrampen, die Gelegenheit bieten, der Stadt den Rücken zu kehren; und wenn man es einmal tut, man nehme nur Lizenzspieler des heimischen FC Köln, kommt es einer Verbannung gleich.
Böse Zungen sagen dagegen: Des Kölner Luft ist schlecht, der graue Himmel über Köln allgegenwärtig, die Kölner nicht gerade kalifornische Schönheiten, deshalb verkleiden sie sich und trösten sich gegenseitig bei mehreren Bieren kölscher Brauart. In der Tat weist die oft extrem schwüle Kölner Kessellage eine meteorologische Besonderheit auf, die zu preußischen Zeiten den Beamten „Kolonialgeld“ zustand, das man sonst nur unter subtropischen Verhältnissen bekam. Nahegelegene Chemieproduktionen machen die Sache nicht besser, weshalb die Kölner Luftwerte in Europa oft mit Industriemetropolen wie Turin konkurrieren. Und über Attraktivität lässt sich bekanntlich streiten.
Tatsache ist jedoch, dass „Schöntrinken“ auch hier funktioniert, das Kölsch- Bier in besonderem Maße das „Herz auf die Zunge“ legt und als emotionaler sozialer Kitt fungiert und dass der Höhepunkt dieses Treibens, der alljährliche Abnabelungsversuch von katholischen Imperativen im Karneval, eine Entfesselung produziert, wie man sie selbst in anderen Karnevalshochburgen nicht kennt. Das mittlerweile oft halbherzig als Alibi übergestreifte Kostüm (wie Ringelhemd, Pappnase, Lappenclown, Sportler, Weihnachtsmann!) dient oft nur als Mittel zum Zweck, fünf Tage hindurch „Hangover“ zu spielen. Ohne Alkohol ist Kölner Karneval nicht denkbar, in der breiten Masse geht es nur ums Zum-Zuge-Kommen (und damit ist nicht der Karnevalszug gemeint).
Jeder ist auf seine Art verrückt,
und das wird gefeiert.
Die traditionellen Karnevalsriten des Kölner Inner Circle (im Unterschied zum Straßenkarneval) bilden im Unterschied dazu das Hochamt der Status- und Auftragsverteilung – eine Jungfrau kann sich eines hohen Ansehens über Jahre hinweg gewiss sein – und der Klüngelei, die ohne Umschweife als „Mafia, nur ohne Tote“ im „nördlichsten Außenposten von Palermo“ definiert wird. Auch bei regelmäßigen Ausfällen – bauliche Durchschnittlichkeit oder veritable Katastrophen wie der Einsturz des Stadtarchivs, weil ein Polier offenbar ein paar Stahlträger an einen Schrotthändler verschachert und der Bürgermeister den Überblick verloren hat – meint man es dabei aber eigentlich gut: „Man kennt sisch, man hilft sisch“, ist die Kölner Sozialformel fürs Weiterkommen. Jeder kennt einen, der einen kennt, so kocht man im Kölner Kesselchen oft erfolgreich sein eigenes warmes Süppchen, ohne in der kalten Fremde sein Glück versuchen zu müssen.
Diese Kölner „USPs“ für ein erfolgreiches Leben speisen sich möglicherweise aus der Historie. So hatte „Colonia Claudia Ara Agrippinensium“ (CCAA) mehrfach das Glück, von außen eine besondere Stellung zugewiesen zu bekommen. Schon von den Römern wurde den germanischen Ubiern relativ freie Hand gelassen, nachdem sie sich auf deren Seite geschlagen hatten, und Köln als extrem wichtiges militärisches Drehkreuz und Handelsmetropole aufgebaut. Besagte siegreiche Schlacht von Worringen gegen die damaligen „Düsseldorfer“ wird heute noch gerne als Ursprung des strotzenden Kölner Selbstbewusstseins zitiert. Wirtschaftliche Tricks wie das Stapelrecht oder die Vermarktung der „11.000“ Jungfrauen“ erbrachten der Stadt wirtschaftlichen Aufschwung, ohne über die Grenzen gehen zu müssen. Die Lage Kölns als Drehkreuz großer europäischer Handelswege hatte auch eine Sogwirkung auf ausländische Kaufleute, die wiederum von hier aus erfolgreich agierten – man denke nur an das „Acqua mirabilis“ des italienischen Fabrikanten Giovanni Maria Farina, das als „Eau de Cologne“ bekannt wurde. Und es wurde jeder Standortvorteil genutzt. Weil in Köln der Rhein flach wurde, mussten große Handelsladungen auf andere Boote verladen werden. Der Kölner Erzbischof verlieh den Bewohnern das Recht, die Ware zu stapeln und sich selbst anzubieten, sowie der weiter verschiffenden Ware Zölle aufzulegen, was der Stadt großen Reichtum bescherte.
Eine weitere marktfähige Schote verdankt Köln der christlichen Märtyrerin Ursula, die mit ihren Begleiterinnen von den Hunnen ermordet wurde. Sie begründete den Mythos der „11.000“ Jungfrauen Kölns, die im Stadtwappen mit je einer Träne bedacht werden. Die ursprüngliche Zahl von 11 Jungfrauen hatte sich aber wohl erst vertausendfacht, nachdem in ganz Europa der Bedarf an Heiligengebeinen sprungartig anstieg. In der Reliquien- Hochburg Köln (im Dom liegen seit jeher die Gebeine der „Heiligen Drei Könige“) nutzte man die Entdeckung römischer Grabfelder zu deren Ausweidung und zum Abverkauf ihrer Knochen als angebliche Jungfrauen-Reliquien. Trickreiches Marketing, kann man da nur sagen.
Solch ein verschmitztes Vorgehen („Schmitz“ ist übrigens in Köln so etwas wie „Müller“ oder „Meier“) macht selbst die „dom-inante“ katholische Kirche mit, wenn der bis heute verehrte Kardinal Frings nach dem Zweiten Weltkrieg der hungernden Gemeinde in einer Predigt durch die Blume suggeriert, dass es moralisch in Ordnung sei, Essbares aufzuheben, wenn es vom Lastwagen fällt ... Der Kölner Neologismus „fringsen“ entsprach einer Art legitimen, abgesegneten Stibitzens um des Überlebens Willen. Kardinal Frings gilt als Retter der Kölner Menschheit in der Nachkriegszeit.
Geschichten, die die Kölner Mentalität unterstreichen, kulminieren in einer Anekdote der jüngeren Gegenwart, als 1996 das Hochtragekreuz aus der Kölner Domschatzkammer gestohlen wurde, das beim Einzug der Erzbischöfe in den Dom vorangetragen wird. Wochenlang war das entwendete, nicht gerade unbedeutende und sehr wertvolle Kreuz Stadtgespräch in den Medien und Brauhäusern, bis es eines Tages einfach wieder da war. Wie sich herausstellte, hatte es der stadtbekannte Zuhälter und Kriminelle Heinrich Schäfer auf Bitten des damaligen Dompropstes aus dem Milieu wiederbeschafft. Was bedeutet: In Köln arbeiten, wenn es auf die Wiederherstellung der Kölner Harmonie ankommt, auch soziale Gegensätze Hand in Hand. Jeder weiß, was man voneinander hat – so wie der Zuhälter weiß, wo ein Kreuz abgeblieben ist und in moralischer Entrüstung wieder erzkatholische Zustände herstellt, die nicht gerade der eigenen Moral entsprechen. Es handelt sich dabei um die berühmte „Kölsche Lösung“, die irgendwie einen Kompromiss findet, der niemanden benachteiligt, aber alle zufriedenstellt – „Schäfers Nas’“ verzichtete übrigens auf seinen Finderlohn von 3000 D-Mark und forderte stattdessen, in die Fürbitten des Dompropstes eingeschlossen zu werden. Denn Ordnung muss sein in Köln, und es bewahrheitet sich die vielleicht größte Wahrheit, die entsprechend der magischen Kölner Zahl „Elf“ (Elf respektive elftausend Jungfrauen, die Elf des FC Köln, der Elferrat ...) als Elftes Grundgesetz wirkt: „Jeder Jeck ist anders“.
Diese Weisheit bewegte schon den russischen Schriftsteller und Flüchtling Lew Kopelew und vermutlich tausende von anderen Immis, in Köln zu bleiben und besagt dreierlei: Jeder ist hier als „Jeck“ angesehen auf seine Art verrückt. Jecke sind nicht alle gleich, sondern alle anders. Und als Anderer wird man wahrgenommen, akzeptiert, geschätzt, gedrückt, „jebützt“ (unverbindlich geknutscht) und nicht mehr losgelassen ... das ist eine Liberalität, die den „Anderen“ nicht duldet, sondern feiert. Hannah Arendt hätte ihre helle Freude. Darauf erst einmal ein lecker’ Kölsch